Handarbeit: Wer individuelle Kleidung will, muss selber nähen

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Es ist kurz nach 10 Uhr. Susanne Koch hat gerade ihr „Näh-büro“ geöffnet und Teewasser aufgesetzt, da kommt bereits die erste Kundin. Sie zieht einen Stoff mit Giraffenmuster aus der Tasche. Karneval steht vor der Tür, die kleine Tochter braucht ein Kostüm. Man kennt sich. „Hast du ein Schnittmuster für mich?“, fragt die Kundin. Susanne Koch muss nicht lange suchen. Kurz darauf stehen die beiden am Zuschneidetisch. Da kommt schon die nächste Kundin zur Tür herein, ruft „Hallo allerseits“ und steuert zielstrebig zu einer der Nähmaschinen im hinteren Bereich des Ladens. Sie arbeitet seit gestern an einem Schlafsack für ihr Baby, das in ein paar Wochen zur Welt kommen wird.

Keine halbe Stunde später ist das „Nähbüro“ voll besetzt, fünf Frauen zwischen 30 und 40 schneiden zu, nähen ab, bügeln auf. Susanne Koch doziert nicht, sie agiert wie eine Freundin unter Freundinnen. Geht zur Hand, wenn sie gefragt wird. Hilft beim Einfädeln. Zeigt, wie man den Fadenlauf eines Stoffes erkennt. Und verhindert in letzter Sekunde, dass die Giraffe auf Kuscheltierformat zerschnitten wird. Nebenbei wird über dies und das gequatscht.

Das „Nähbüro“, in einer Seitenstraße des Kölner Agnesviertels gelegen, ist eine von fast einem Dutzend Adressen in der Domstadt, wo Hobbyschneider arbeiten können, Tipps und die passenden Stoffe bekommen. Manche bieten spezielle Anfängerkurse an, manche veranstalten auch Nähevents für Kindergeburtstage. Diese kleinen Geschäfte tragen Namen wie „Roter Faden“, „Das Nähcafé“ oder „Salon Fadenschein“, und man findet sie gehäuft in In-Vierteln wie Südstadt, Nippes oder Ehrenfeld. In anderen größeren NRW-Städten sieht es ähnlich aus: zwei Nähcafés in Münster, drei in Bielefeld. Selbst in Senden, Tönisvorst oder Bergisch Gladbach wird man fündig.

Susanne Koch vom Nähbüro macht Nähen zum Event
Susanne Koch vom Nähbüro Köln macht Nähen zum Event

Quelle: Silvia Reimann

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Handarbeit ist wieder in, schon seit Jahren hält der Trend an. Denn wer wirklich individuelle Klamotten haben will, macht sie sich am besten selbst. Zu Beginn dieser Selber-machen-Entwicklung, Ende der Nullerjahre, war vor allem noch vom Stricken und Häkeln die Rede. Damals wurden zwei häkelnde junge Männer aus Franken mit ihrem Mützenlabel „My Boshi“ zu Medienstars. Doch nun scheint das Nähen an der Reihe zu sein.

Beim Nähen habe man schnellere Erfolgserlebnisse als beim Stricken, sagen die einen. Andere meinen, gute Wolle sei zu teuer. Wieder andere finden, Nähen sei vielseitiger und der Bedarf an warmen Wollsachen einfach nicht groß genug. Tatsache ist jedenfalls, dass „das Nähen das Stricken als Trendthema überholt hat“. Das teilt der Branchenverband „Initiative Handarbeit“ mit. Während Stricken und Häkeln leicht zurückgingen, wiesen die Verkaufszahlen von Stoffen und Nähmaschinen Zuwächse von sechs bis acht Prozent auf. Eine Entwicklung, die auch im Internet deutliche Spuren hinterließ. Die Zahl der Online-Stoffhändler steigt fast täglich, es gibt Nähblogger, die über ihre Erfahrungen berichten, und Designer, die Schnittmuster als PDF im E-Book-Format anbieten. Dazu kommt eine unüberschaubare Schar von jungen Müttern, die im Handzettel-Vertrieb selbst genähte Babystrampler, Kissen oder Puppen verkaufen. Männer kommen in dieser Szene nur selten vor.

Ein Jugendtraum führte sie an die Nähmaschine

Um das Phänomen zu erklären, hilft es, die Geschichte von Susanne Koch und ihrem „Nähbüro“ zu erzählen. Als die gelernte Werbekauffrau das zweite Kind bekam, gab sie ihren Job auf. „Ich war in der Medienbranche“, sagt sie, „das war unvereinbar mit dem Familienleben.“ Etwa zur selben Zeit besann sie sich auf ihren Jugendtraum von einem Leben als Kostümbildnerin und fing wieder zu nähen an. Und bei einem Holland-Urlaub sah sie dann zum ersten Mal ein Nähcafé, „rechts ging es ins Café, links in die Stoff- und Nähabteilung“, erzählt sie. Das war 2011. Noch im selben Jahr eröffnete sie ihr Kölner „Nähbüro“. Auf den Café-Betrieb verzichtete sie, weil sie keine Lust hatte, sich um eine Gaststättenkonzession zu bemühen. Erst hatte Koch nur 40 Quadratmeter und geliehene Nähmaschinen. Dann kaufte sie die Maschinen, zog ein paar Straßen weiter und vergrößerte ihr Geschäft auf 65 Quadratmeter. Werbung braucht sie keine. Sie hat 60 Stammkundinnen und einen E-Mail-Verteiler mit 400 Adressen.

Natalie Heuer hat ihr Hobby zum Beruf gemacht
Natalie Heuer hat ihr Hobby zum Beruf gemacht

Quelle: Olaf-Wull Nickel

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Auch Natalie Heuer, eine diplomierte Biologin, fing wieder mit dem Nähen an, als sie zwei Kinder hatte. Ab und an verkaufte sie selbst gemachte Puppen. 2014 machte sie beim Casting für die Näh-Fernsehsendung „Geschickt eingefädelt“ mit. In dieser Zeit reifte auch bei ihr der Plan heran, mehr aus ihrem Hobby zu machen. „Es war damals noch schwer, schöne und ausgefallene Stoffe zu bekommen“, erzählt sie. Und nach einer gründlichen Marktrecherche beschloss sie vor zwei Jahren, ihren Stoffladen „Käthe Meier“ zu eröffnen, in Köln-Nippes, nur ein paar Hundert Meter vom nächsten Nähcafé entfernt, wo es ebenfalls Stoffe zu kaufen gibt.

Doch warum funktioniert ein Stoffladen, wo doch der übrige Einzelhandel kaum noch gegen den Online-Handel ankommt? „Weil online und offine beim Nähen super zusammenpassen“, sagt Natalie Heuer. Man könne sich im Internet zwar Anregungen holen für die Klamotten, die man nähen möchte, sagt Heuer. „Aber den Stoff wollen die Kunden eben auch anfassen und fühlen, bevor sie ihn kaufen.“ Dazu kommt die Optik: Auf Fotos sei nicht zu erkennen, ob die Farben von zwei Stoffen tatsächlich zueinanderpassen. „Man muss sie schon nebeneinanderhalten“, sagt Heuer.

Selber schaffen, was einem gefällt

In Kölner Nähcafés und Stoffläden trifft man früher oder später auch auf Selmin Ermis-Krohs. Die Nähkarriere der 37 Jahre alten Betriebswirtin begann mit einer Puppe zur Geburt des Kindes ihrer Freundin. Danach wagte sie sich an Schwierigeres: erst eine Handtasche, dann ein Kleid mit Abnähern und Reißverschluss. Die meditative Stimmung beim Nähen habe ihr von Anfang an gefallen, erzählt sie. Und geradezu verblüfft war sie, dass sie auf diese Weise mit ihren Händen etwas schaffen konnte, „was mir am Ende sogar gefällt“. Von den Excel-Tabellen, mit denen sie im Beruf zu tun hatte, konnte sie das nicht behaupten. Mittlerweile trägt Ermis-Krohs fast nur noch Selbstgeschneidertes, für sie ist das Nähen die beste Möglichkeit, einen eigenen Kleidungsstil zu pflegen. Vor knapp drei Jahren fing sie auch damit an, über ihr neues Leben mit Nadel und Faden in ihrem Internetblog „Tweedandgreet“ zu berichten. 2016 habe sich die Zahl der Blog-Besucher vervierfacht, sagt sie. Jetzt wartet sie darauf, dass Unternehmen den Blog als Plattform für ihre Werbung entdecken – große Firmen wie etwa Prym in Stolberg bei Aachen, wo vom Druckknopf bis zum Schnittmusterbogen alles angeboten wird, was man zum Nähen braucht. Es wäre nicht der erste kommerziell erfolgreiche Nähblog.

Zwar sind in großen Städten der Stoffladen und das Nähcafé an der Ecke die ersten Anlaufstellen, wenn es darum geht, sich ein individuelles Kleidungsstück oder Accessoire zu schneidern. Doch das Internet ist als Umschlagplatz für Ideen nicht wegzudenken. Und das E-Book ist das dort bevorzugt gehandelte Medium für Schnittmuster und Nähanleitungen. „Allerdings sind viele E-Books vollkommen unverständlichaufgebaut“, sagt Susanne Koch. „Bei mir im Nähbüro tauchen oft Kundinnen auf, die mit ihren E-Books nicht zurechtkommen.“

Auch Lisa Kienzle hat nicht nur gute Erfahrungen mit E-Books gemacht. Kienzle, 29 Jahre, hat Mediendesign in Münster studiert. Vor ein paar Jahren fing sie an, sich in Facebook-Nähgruppen über ihr Nähhobby auszutauschen. „Und dann“, erzählt sie, „häuften sich die Anfragen, woher ich denn meine Schnitte hätte.“

Kienzle hatte alles selbst entworfen. So kam sie auf die Idee, Anleitungen zum Selberschneidern von hippen Taschen aufzuschreiben und für ein paar Euro als E-Book auf ihrer Website hansedelli.de[1] zu verkaufen. Für ein einziges E-Book braucht sie oft Monate, sie fotografiert jeden Arbeitsschritt und lässt Testnäher ausprobieren, ob die Anleitung auch funktioniert. Soeben ist Kienzles fünftes E-Book erschienen. Genaue Verkaufszahlen will sie nicht verraten. „Es läuft gut“, sagt sie bloß lachend. Noch arbeitet Kienzle als Angestellte in ihrem erlernten Beruf, doch Ende des Jahres will sie sich selbstständig machen.

Geschäftsmann will Nähsupermarktkette aufbauen

In dieser Geschichte vom Nähen und Schneidern, in der es von kreativen, optimistisch in die Zukunft blickenden Frauen nur so wimmelt, spielt interessanterweise ein männlicher Akteur eine zentrale Rolle. Einer, der sich nicht scheut, den bösen alten Mann zu geben. Er heißt Joachim Bürger, ist 69 Jahre alt und spricht gern von „den Mädchen da draußen, die kleine Nähcafés betreiben oder irgendwelche Stoffe im Internet verkaufen“. Aber, so fügt er hinzu, „die verdienen damit doch alle kein Geld“.

Bürger, ein alter Hase der Werbebranche, sieht sehr wohl das Potenzial des Do-it-yourself-Schneiderns. Er nimmt sogar für sich in Anspruch, einer der Ersten gewesen zu sein, die den Trend erkannt haben. Doch Bürger geht davon aus, dass sich die Branche bald verändern wird. Er vergleicht die Situation mit den Sechzigerjahren, „als jede modebewusste Frau eine Boutique eröffnete und wenige Jahre später wieder schließen musste, weil die Filialisten das Feld für sich entdeckten“. Ähnlich sei es den kleinen Bioläden der Neunzigerjahre ergangen, von denen kaum noch einer übrig ist, seit Ketten den Biomarkt erobern.

Joachim Bürger gründete das „Zic’n’Zac“

Quelle: HUBO PROJEKTAGENTUR

Bürger gründete deshalb in Essen das Zic’n’Zac, einen Laden, der auf 400 Quadratmetern alles bietet, was man zum Selbernähen braucht, und der das Vorbild für weitere Geschäfte in ganz Deutschland abgeben soll. 40 Filialen seien deutschlandweit denkbar, so rechnet Bürger. Stolz berichtet er, dass der Standort in Essen ein jährliches Plus von bis zu acht Prozent vorweisen kann – und ein paar Unternehmerpreise obendrein. Dennoch sucht Bürger bislang vergebens nach Investoren, die sich auf das Abenteuer seiner Filial-Idee einlassen.

Gleich links neben dem Zic’n’Zac-Eingang gibt es ein kleines Café, auf der anderen Seite liegen Stoffe in den Regalen. Dahinter kommen Kurzwaren aller Art sowie Schnittmusterbogen. Und daran anschließend, ein paar Treppenstufen tiefer, stehen Nähmaschinen und Tische zum Zuschneiden. Dort finden täglich Kurse statt, jeden Morgen um 10.30 Uhr geht’s los, „für Kids ab acht“, „für Teens ab 14“, für „Mutter und Kind“, für „Einsteiger und Fortgeschrittene“, allesamt ausgebucht. Ob man auch einfach so, ohne Anmeldung, vorbeikommen könne, um einfach mal was zu nähen? Die Mitarbeiterin an der Verkaufstheke schüttelt den Kopf. Anfangs habe man das noch gemacht, doch immer wieder gab es Schäden an den teuren Maschinen. „Man weiß ja nie, was die Leute können“, sagt sie.

Es geht um das Miteinander

An solchen Details wird deutlich, worin der Unterschied liegt zwischen dem großen Zic’n’Zac in Essen und einem kleinen Nähcafé wie dem Kölner „Nähbüro“ von Susanne Koch. Zu ihr kann jeder jederzeit kommen, auch ohne Kurs. Und während Joachim Bürger Wert darauf legt, dass in seinem Geschäft nur ausgebildete Schneiderinnen unterrichten, hält die Autodidaktin Susanne Koch zu viel Expertentum für eher hinderlich. Ihre Kundinnen wollen nicht im schulmäßigen Schneidern unterwiesen werden, bis der Kopf raucht. Sie wollen einfach loslegen. Machen! „Manchen muss ich jeden einzelnen Schritt erklären“, erzählt Susanne Koch, „andere fragen mich höchstens einmal in der Stunde was und helfen zwischendurch sogar noch den anderen.“

Aber warum kommen die, die eigentlich schon nähen können, trotzdem für fünf Euro pro Stunde ins „Nähbüro“? Erstens ist eine gute Nähmaschine teuer. Zweitens, so erklärt Koch, sind in Köln die Mieten hoch, und in den Altbauwohnungen hat eine junge Familie keinen Platz für ein Nähzimmer übrig. „Und es ist ja nicht so toll, wenn man im Alltag mit Kindern überall Stoffe und Nadeln rumliegen hat.“ Bei ihr kann man sich ausbreiten. Und wenn eine Arbeit nicht fertig wird, bleibt sie eben liegen bis zum nächsten Tag.

Und dann gibt es noch einen dritten Grund, der dafür spricht, dass kleine Nähcafés Chancen haben, gegen einen Nähsupermarkt wie das Zic’n’Zac zu bestehen. In einer Analyse der „Initiative Handarbeit“ heißt es: „Die wachsende Do-it-your-self-Community entwickelt sich zunehmend zu einer Do-it-together-Bewegung.“ Zu Deutsch: Es geht ums Miteinander, um das gemeinsame Machen, um Klatsch und Tratsch bei der Arbeit. „Und außerdem“, so sagen die fünf Frauen, die an diesem Morgen im Kölner „Nähbüro“ beieinandersitzen, „muss man sich beim Nähen immer wieder Mut zusprechen.“ Allein zu Hause bliebe manch schwierige Naht ungenäht – trotz der besten Nähkurse. Denn nicht alles ist so einfach wie ein Giraffenkostüm.

Quelle:

www.welt.de

Fußnoten:

  1. ^ Link zur Webseite (www.hansedelli.de)

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